Das Wort «Stress» stand 1961 erstmals im Rechtschreibduden, wobei Stress ein uraltes Phänomen ist. Im Wörterbuch wird Stress definiert als «erhöhte körperliche oder seelische Anspannung oder Belastung, die bestimmte Reaktionen hervorruft und zu Schädigungen der Gesundheit führen kann».

Immer mehr gestresste Erwerbstätige

Die Stressstudie der SECO aus dem Jahre 2010 zeigt auf, dass das Stressempfinden bei Arbeitnehmenden im Vergleich zum Jahr 2000 deutlich gestiegen ist und sich rund 34% der Schweizer Erwerbstätigen häufig oder gar sehr häufig gestresst fühlen. Auch die Zahlen des Bundesamtes für Statistik lassen eine steigende Tendenz erkennen. So litten 2017 21% der Erwerbstätigen sehr oft unter arbeitsbedingtem Stress, gegenüber 18% im Jahr 2012 und 49% der gestressten Personen fühlen sich bei der Arbeit emotional erschöpft, was als höheres Burn-out-Risiko gewertet werden kann.

Das Überangebot als Ursache für Stress

Es gibt einige Studien, die darauf hinweisen, dass nicht die Arbeit an sich schuld daran ist, dass wir uns immer gestresster fühlen, da wir sogar weniger arbeiten als vor einigen Jahren. Einige Forscher sehen die Ursache für die Stresszunahme in den zu vielen Möglichkeiten und Alternativen der Freizeitgestaltung. Anstatt Erholung und Entspannung in einfachen Dingen zu suchen, sehen wir uns vermehrt unter Druck, auch in der Freizeit möglichst viel und möglichst Exklusives zu tun, womit wir für zusätzlichen und unnötigen Stress sorgen. Als ein weitverbreiteter Übeltäter für Stress wird oft die digitale Technologie genannt. So wurde in Untersuchungen beispielsweise herausgefunden, dass das Smartphone gefühlt die Zeit beschleunigt. Viele sehen sich generell durch den rasanten technologischen Fortschritt überfordert und gestresst.

Digitalstress und seine Mikroverletzungen

Die Digitalisierung trägt aber nicht nur eine wesentliche Mitschuld am erhöhten Stressempfinden unserer Gesellschaft bei, weil wir die Zeit beschleunigt wahrnehmen oder weil alles immer komplexer zu werden scheint, sondern weil mit der Digitalisierung tatsächlich vieles beschleunigt und fast alles ununterbrochen verfügbar wird. In diesem Zusammenhang kommt mir ein Blogbeitrag von fridelonthero@d in den Sinn, in dem bereits vor gut sechs Jahren die Rede von «Mikroverletzungen» war. Unter Mikroverletzungen sind beispielsweise Anrufe und Mails ausserhalb der Arbeitszeit oder auch schon nur die Benachrichtigung über eine neueingegangene Mail gemeint, die zu einer Erholungsstörung oder gar einem Zusammenzucken in der Freizeit führen. Zudem führt zu viel am PC, Notebook oder Smartphone verbrachte Zeit generell zu Überreizung, sowohl bei Kindern und Jugendlichen, wie auch bei Erwachsenen.

Im Grunde ist Stress an sich nichts Negatives

Durch Stress sind wir in der Lage, uns sowohl physisch wie auch psychisch Veränderungen anzupassen. Es kann zwischen positivem Stress (Eustress) und negativem Stress (Distress) unterschieden werden. Positiver Stress beansprucht den Organismus, hat aber gleichzeitig eine positive Wirkung, da positiver Stress zu einer Erhöhung der Aufmerksamkeit und zu einer Förderung der maximalen Leistungsfähigkeit führt, ohne den Körper und der Psyche zu schaden. Negativ wird Stress erst, wenn er nicht mehr kompensiert werden kann oder wenn aufgrund eines erhöhten oder dauerhaften Auftreten keine Erholung mehr stattfinden kann. Stress führt dann zu einer Überanpassung des Körpers und zu einer übermässigen Ausschüttung von Botenstoffen und Hormonen, die auf Dauer unter anderem zu Bluthochdruck, Herzinfarkt, Übergewicht, Diabetes, chronischen Entzündungen und Autoimmunerkrankungen, aber auch zu Burnout und gar Absterben von Nervenzellen führen kann.

Die Digitalisierung überfordert die evolutionsbedingten Anlagen des Menschen

In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich die Welt um uns herum rasend schnell verändert. Der Mensch und sein Gehirn jedoch nicht, was zwangsläufig zu Überforderung führt. Zum ältesten Teil des menschlichen Gehirns gehört auch das limbische System, das sich aus mehreren Strukturen zusammensetzt (u.a. Amygdala). Das limbische System regelt unter anderem das Affekt- und Triebverhalten und wird daher auch «emotionales Gehirn» genannt. «Säugerhin» ist ein weiteres Synonym für das limbische System, da es in der Evolution in der Phase der Entwicklung der Säugetiere entstand. Die Evolution der Säugetiere begann vor weit über 100 Millionen Jahre, die des Menschen vor etwa 7 Millionen Jahren und die Geschichte des modernen Menschen vor etwa 90'000 Jahren. Die Amygdala ist als Teil des limbischen Systems die Stresszentrale. Diese Stresszentrale wurde vor tauschenden Jahren viel seltener aktiviert, beispielsweise auf der Jagd oder bei der Begegnung mit einem Säbelzahntiger. Heute wird unsere Stresszentrale bereits bei einer Mail aktiviert oder spätestens dann, wenn wir eine Arbeit nicht wie ursprünglich vereinbart erst in einer Woche, sondern in ein paar Stunden abliefern müssen.  Früher ging es um Leib und Leben, heute sind wir mit anderen stressauslösenden Faktoren konfrontiert. Meist wenn die Dinge nicht gemäss unseren Vorstellungen und Erwartungen laufen. Trotz der ganzen menschlichen Evolution und unabhängig von der Stressursache, läuft die Stressreaktion noch genau nach demselben Muster wie vor rund 100'000 Jahren ab. Sogar auch dann, wenn wir uns die stressige Situation nur schon vorstellen.

Status «offline» als bewusste Massnahme gegen Digitalstress

Es gibt zahlreiche Empfehlungen, wie man negativem Stress entgegenwirken kann. Genauso wichtig ist es jedoch, sich den stressauslösenden Faktoren bewusst zu sein, um überhaupt die passenden (Gegen-)Massnahmen ergreifen zu können. Ereignisse, die als unkontrollierbar, persönlich bedeutsam sowie als potentielle Bedrohung wahrgenommen werden, lösen eine psychologische und physiologische Stressreaktion aus (Dickerson & Kemeny, 2004). Im Zusammenhang mit der Digitalisierung sind wir solchen Ereignissen, wenn auch in Form scheinbarer Mikroverletzungen, fortwährend ausgesetzt. Es erreichen uns beispielsweise tagtäglich unzählige Mails, die nicht selten mit Arbeitsaufträgen und Aufforderungen verbunden sind, die uns entsprechend in Aktionsbereitschaft versetzten und folglich, mal mehr und mal weniger, auch unsere Stresszentrale (Amygdala) aktivieren. Wir werden über unsere Smartphones mit Meldungen und Nachrichten überflutet und der steigende Druck, eine digitale Identität zu besitzen, lässt uns auch nach einem intensiven Arbeitstag im Aktivitäts- und Aktionsmodus verharren, da wir schliesslich nichts verpassen sowie durch Beiträge und Kommentare Präsenz markieren wollen-sollen-müssen. Hier hilft nur eins: Bewusst «offline»-Zeiten einplanen und auch einhalten. Ich staune immer wieder, wie wenig ich effektiv verpasse, wenn ich offline bin und wie viel sich schon fast wie von selbst erledigt, während ich offline bin.