Der Begriff Fachkräftemangel ist je länger je mehr in aller Munde und ich muss zugeben, dass ich eine Tendenz zum Begriffsmissbrauch beobachte, die mich irritiert.
Ich wage zu bezweifeln, dass wir effektiv einen Fachkräftemangel haben. Vielmehr ist der scheinbare Fachkräftemangel aus meiner Sicht eine Folgeerscheinung von fragwürdigen Unternehmenskulturen, schlecht geführten Unternehmungen, einer krankhafte Fixierung auf Umsatz und Profit sowie falschen Rollenvorstellungen von Fachkräften und Kadermitgliedern.

Mangelnde Bereitschaft zu langfristigen Überlegungen und Investitionen
Aus meiner Sicht hätten wir genug gut ausgebildete Fachkräfte, jedoch begehen Firmen einige (Überlegungs-) Fehler. Viele Firmen denken zu kurzfristig und sind oft nicht bereit, weiter in Fachkräfte zu investieren. Es kommt nicht von ungefähr, dass wir von Fachkräften sprechen, denn es geht dabei meist um hochspezialisiertes Human Kapital. Dabei wird jedoch vergessen, dass man als Firma nicht selten auch über spezifisches Knowhow bedarf, das nicht zum 08:15 Profil einer Fachkraft gehört und somit sollte bei der Suche nach Fachkräften (und passenden Mitarbeitenden ganz allgemein) davon ausgegangen werden, dass man kaum ein 100% passendes Profil finden wird, sondern damit rechnen muss, noch weiter in die Person investieren zu müssen. Also braucht es hier von Firmen auch mehr langfristige Überlegungen sowie entsprechend strategisches Vorgehen. Personalentwicklung sollte ernst genommen werden und nicht nur als eine weitere „nice to have“ Unterabteilungen des Human Resource Managements vor sich hin plätschern.

Fachkräfte, Kader und Karriere = 7x24 Präsenz
Einen weiteren und wirklich wesentlichen Grund für den scheinbaren Fachkräftemangel sehe ich in den fragwürdigen Vorstellungen bezüglich Fachkräfte und Kadermitgliedern. Wer zum Kader oder den Fachkräften gehört, trägt meist eine viel höhere Verantwortung als der Durchschnitt aller Arbeitskräfte, hat je nach dem auch Führungsverantwortung und gehört zu einer Gruppe, die dafür prädestiniert ist, Karriere zu machen. In den Köpfen der meisten dominiert nach wie vor die Vorstellung, dass man nur Karriere machen und eine zentrale Rolle für ein Unternehmen spielen kann, wenn man rund um die Uhr da ist. Eine Überzeugung mit fatalen Folgen. Ich bin überzeugt, dass wir genug Fachkräfte haben, jedoch diesen Fachkräften zu wenig Flexibilität entgegenbringen. Ich wage zu behaupten, dass gerade weibliche Fachkräfte brachliegen, weil man von einer Fachkraft eine Präsenz erwartet, die eine Mutter nicht erfüllen kann und will. Aus meiner Sicht wird die Thematik Teilzeit in Zusammenhang mit Schlüsselpositionen noch sehr altmodisch gehandhabt. Zudem wird vergessen, dass nicht alle Fachkräfte bereit sind, ausschliessliche für ihren Arbeitgeber zu leben. Im Zusammenhang mit Fachkräften, Kader und Karriere scheint mir zeitlich Qualität viel zu wenig gewichtet zu werden.

Ohne Umdenken bleibt es beim Fachkräftemangel
Firmen, die sich mit einem Fachkräftemangel konfrontiert sehen, sollten die Angelegenheit mal ganzheitlich unter die Lupe nehmen und sich folgende Fragen stellen:

  • Welche Fachkräfte brauchen wir genau und wie kommen diese Fachkräfte zu ihrem Wissen und Können?
  • Was von diesem Wissen und Können kann über entsprechende Ausbildung und externe Arbeitserfahrung erlangt werden?
  • Was von diesem Wissen und Können ist so exklusiv, das es nur in house erworben werden kann? -> Ein entsprechender Ausbildungsplan und ein klares Vorgehen muss ausarbeitet werden (Nachfolgeplanung).
  • Was könnten nehmen dem hohen Lohnniveau der Konkurrenz und der hohen Nachfrage nach Fachkräften weitere Gründe für die schwierige Situation in der Personalgewinnung sein?
  • Welches Arbeitsmodell ist für die entsprechenden Fachkräfte denkbar? Müssen es wirklich 100% Stellen sein? Was ist mit Homeoffice? Welche Anpassungen braucht es?
  • Was für eine Kultur leben wir und was für mögliche Mitarbeitende sprechen wir damit an?
  • Was bieten wir den Fachkräften, was macht uns für Fachkräfte attraktiv?

Fokus auf Gewinn- und Profitorientierung riskant
Zentral erachte ich im Zusammenhang mit Fachkräftemangel auch das Thema der intrinsischen Motivation. Es ist ja kein Geheimnis, dass Geld alleine nicht glücklich macht und mehr Lohn nicht für zufriedenere Mitarbeitende sorgt, was vor allem zu berücksichtigen ist, wenn man nicht nur extrinsisch sondern eben auch intrinsisch motivierte Mitarbeitende beschäftigen möchte. Ich wage zu behaupten, dass dies genauso (wenn nicht mehr) auf Fachkräfte zutrifft und diese gerade wegen ihrer Exklusivität nicht bereit sind, für irgendein Unternehmen zu arbeiten. Ein Arbeitsverhältnis ist ein Geben und Nehmen. Eine Firma, die langfristig menschlich, moralisch und ethisch vertretbar erfolgreich sein will, muss mit seinen Mitarbeitenden entsprechend umgehen. Ein Unternehmen hat immer die Mitarbeitenden, die es verdient. Eine Firma, die nur auf Profit aus ist, sich von ihren Stakeholdern instrumentalisieren lässt, ihre Mitarbeitende nur aufgrund exorbitanten Löhnen motivieren und halten kann, Omnipräsenz fordert und von den Leuten direkt oder indirekt erwartet für die Firma zu leben, muss sich auch nicht wundern, wenn sie in Krisenzeiten die „besten“ Mitarbeitenden verliert und Loyalität, Langfristigkeit und Treue am Ende des Tages nur eine Illusion bleibt und das Problem des Fachkräftemangels zum Alltag gehört.